Der Cognacschwenker von Varanasi

Die Geschichte einer Seelenwanderung

My Photo
Name:
Location: Taipei, Taiwan

Tuesday, January 14, 2003

(Die Geschichte einer Seelenwanderung)

Rolf-Peter Wille*


Die wärmsten Jacken sind die Cognacken, sagte mein Vater immer.

Heizungen gibt es nicht in unseren Breitengraden, und an meinen Vater dachte ich, als ich die dickbauchige Cognacflasche öffnete. Nicht nur die Liebe zum Cognac hatte ich geerbt von ihm, dem kleinen rundlichen Antiquitätenhändler mit seinem stets rundlichen Buddha-Lächeln, sondern auch meine elegante Villa in Varanasi.

Ein würziges Aroma von vergorenen Weintraubenschalen schwängerte die kalte Luft meines Wohnzimmers und, als ich das Elixier ins heiße Wasserbad stellte, biß es mir so recht in die Nase. Nach wenigen Schlucken erwärmte sich die Atmoshäre des Zimmers. Das Aquarium summte gemütlich und gluckste wie ein Heizkörper, die Fische erzitterten im Wasser, schwammen zur Glaswand und glotzten mich verwundert an, als ich ihnen zuprostete.

Auch die elf Köpfe des Bodhisattvas Avalokiteshvara glotzten von seinem Thangka herab. Auf die Fische starrten sie. Mich schienen sie zu ignorieren. Ich nahm meinen Cognacschwenker in die Hand und schritt zum Altar, um dem Bodhisattva zuzuprosten. Eine seiner tausend Hände, die alle mit einem Schlitzauge versehen waren, hielt tatsächlich einen Cognacschwenker. Zuvor war mir dies nicht aufgefallen, und ich wunderte mich. Durch mein eigenes Cognacglas hindurch betrachtete ich die gleichmütigen Antlitze des Heiligen. Ganz verzerrt schauten sie nun aus.

Draußen vor der Tür spielte ein Geist eine seltsam leise Melodie auf dem Windglockenspiel. Hinaus schritt ich, meinen Cognacschwenker in Augenhöhe, um mit dem Glockenspiel anzustoßen. Mein Glas sang ein dreigestrichenes Des, und pentatonisch stoben die Geister des Glockenspiels auseinander.

Auf der schattigen Straße stehend, wähnte ich mich noch im Wohnzimmer. Mit dem Cognac da hatte ich wohl auch mein eigenes Reich hinausgetragen, und erstaunt betrachtete ich meine neue Welt, indem ich den Kolonialhäusern und Tamarindenbäumen der Reihe nach zuprostete. Ein Mensch mit langer Nase sieht ja manchmal seine eigene Nasenspitze. Aber er gewöhnt sich daran, und nach einer Weile sieht er sie nur noch beim Schielen. Der Blickkreis enthält also nichts Eigenes mehr, wenn man stur nach vorne schaut. Wie anders ist es mit einem Cognacschwenker in der erhobenen Hand! Etwas Persönliches gewinnt der Blickkreis, eine Signatur. So, mit erhobenem Glas in der rechten Hand, wandelte ich, den freien Arm hinter dem Rücken verschränkt, vornehm in meiner Wohnzimmer-straße, und bald war ich nur noch ein schwebender Blickkreis mit einem leicht schwankenden Cognacschwenker darin.

Da plötzlich erschien etwas Fremdes im Blickkreis. Die alte Witwe Sadi war mit ihrer langen Nase um die Ecke gebogen und kam nun vom anderen Ende der Straße her stetig und langsam auf mich zu. Auch sie hielt ein Cognacglas in der rechten erhobenen Hand, und ich wunderte mich. Ich kannte sie ja fast gar nicht, die alte Sadi und ihre Nase. Machte sie sich etwa lustig über mich? Sie mochte nun aber immerhin das Gleiche von mir denken. Ein Nachgeben jedoch schien unmöglich. So hielten wir jeder, den freien Arm hinter dem Rücken verschränkt, unser Glas steif vor uns und kamen stur aufeinander zu - von zwei entgegengesetzten Enden der Straße her.

Als sie nähergekommen war und bereits ein Viertel meines Blickkreises füllte, bemerkte ich, daß es gar kein Glas war sondern lediglich eine gewöhnliche Plastiktüte, die die alte Frau Sadi in der ausgestreckten Hand hielt.

"Gebe ich dir! Gebe ich dir!" krächzte die Alte; und die Tüte hielt sie mir unter die Nase.

Aus der Ferne hörte ich noch immer die leisen Klänge des Windglockenspiels.

Ich steckte meine Nase in die Tüte und entdeckte eine abgeschlagene Hand mit einem leeren Cognacschwenker.

Angewidert warf ich mein Glas in die Tüte. Ein scharfes Klirren von zerberstendem Glas.

"Prost!" sagte die Witwe Sadi und entfernte sich mit der Tüte. Lange noch konnte ich ihre mechanischen Schritte auf dem Pflaster hören.

Nun fühlte ich mich etwas betrunken. Recht leicht war meine Hand ohne den Cognacschwenker. Ich ruderte mit den Armen, wie ich es manchmal beim Schwimmen oder im Traum mache, und schon schwebte ich in der Luft. Recht schwierig jedoch war es für mich, weiter emporzufliegen, und nur mit einiger Anstrengung konnte ich mich gut einen Meter über dem Boden halten. Was ich jedoch nicht an Höhe gewinnen konnte, machte ich durch rasante Geschwindigkeit wieder wett, und wie ein Luftkissenboot so glitt ich unter den hohen Tamarindenbäumen dahin.

Ein Junge mit einem Roller kam mir entgegen und wir schossen aneinander vorüber.

Lautlos glitt ich durch den verlassenen Park mit seinen dunklen tunnelartigen Alleen und näherte mich bald einem riesigen, altertümlich anmutenden Bazaar. Es wimmelte von Menschen in exotischen Trachten neben zerlumpten Bettlern, Kühen und sogar halbnackten Lastenträgern. Immer wieder streifte ich Menschen und Tiere, und da ich bald auch nicht mehr viel Raum zum Armerudern hatte, konnte ich mir meinen Weg nur mit Mühe bahnen, indem ich seitwärts flog. Verzweifelt versuchte ich, höher zu gelangen, um über die Köpfe der Menschen hinweg ins Freie schweben zu können, aber ich rutschte nun sogar noch einen halben Meter tiefer.

Schon hatte mich ein fettes Marktweib entdeckt und wollte mir getrocknete Hühnerkrallen verkaufen. Ein verführerischer Duft von Cumin entstieg der bunten Gewürz-Bude, die das Weib neben einem kleinen Ganesh Tempel aufgeschlagen hatte. Ich begann zu feilschen, besann mich jedoch, da mir plötzlich einfiel, daß ich mein Wohnzimmer zwar mit einem Cognacschwenker in der Hand, nicht jedoch mit Geld in der Tasche verlassen hatte. Das fette Weib hatte aber die Krallen bereits in eine Tüte gestopft, und ich konnte nur noch recht widerwillig in eine der öffentlichen Toiletten fliehen und mich einriegeln.

Ein Klo hatte ich erwartet. Aber nur eine Steintreppe, schmal und steil, verschwand ohne Geländer in einem unterirdischen Abwassersystem, wie ich annahm. Ohne weiteres stieg ich hinunter und befand mich alsbald in einem diffus beleuchteten Kellergewölbe von unübersehbaren Ausmaßen. Feucht war es, tropfende Stalaktiten hingen von der Decke und es zuckten die Schatten von Mauerechsen über verschimmelte Wände. Eine Kläranlage oder Zisterne mußte dies sein - in historischer Zeit erbaut, wie ich aus den verfallenen, fast sakralen Säulengängen schloß.

Eine Kröte mit einem Medusenhaupt starrte mich an. Zu meinem Entsetzen hatte es den Gesichtsausdruck der Witwe Sadi.

Es floß durch die Mitte des Gewölbes ein ziemlich breites Gewässer. Seltsam klar war das Wasser, und auf dem Grund konnte ich sogar Korallen und Algen erkennen. Wundersam wiegten sie sich in der Strömung und rote, winzige Krebse promenierten Seite an Seite in diesen Wäldern. Mit den Armen begann ich wieder zu rudern, um über dieses Gewässer zu schweben, aber je stärker ich ruderte, desto mehr wurde ich in den Sog des Wassers gezogen, und endlich schwebte ich dahin im Wasser, so, wie ich zuvor durch die Luft geglitten war. Bedeutend leichter war es sogar, denn nicht mehr brauchte ich jetzt mit den Armen zu rudern. Nur ein leichtes Schlängeln des Körpers trieb mich ziemlich rasch voran.

Goldfische von fast menschlicher Größe leisteten mir Gesellschaft und wie ein Geschwader von glitzernden Flugzeugen zogen wir über die Korallenwälder, die beinahe nun die Größe von ordentlichen Baumwäldern hatten.

Wie lange wir so geschwommen waren? Ich weiß es nicht mehr…, als plötzlich meine lange Nase gegen eine Glaswand stieß. Hinter der Glaswand erkannte ich die verschwommenen Umrisse eines gigantischen Saales in elegantem Kolonialstil. Ein sehr tiefes Summen konnte ich eher spüren als hören. In sehr weiter Ferne glaubte ich unklar, eine Gestalt von der Höhe eines Berges zu sehen, und sie erinnerte mich an den Bodhisattva Avalokiteshvara.

Da erschien etwas Fremdes in meinem Blickkreis: Eine Riesenhand mit einem ungeheueren Cognagschwenker schien mir zuzuprosten.




* Quelle: Francesco im Land der Delphine (und andere phantastische Geschichten), Betzel Verlag GmbH




back home